Barbara Steiner: So etwas wie Erbe gibt es wirklich nicht
Veliko Tarnovo und Arbanassi
Plamen Dejanoff wurde 1970 in Bulgarien geboren, in Veliko Tarnovo, jener Stadt, die bis heute eine wichtige Rolle im nationalen Selbstbild Bulgariens spielt: Tarnovo war sowohl von 1185 bis 1393 als auch von 1878 bis 1879 Hauptstadt von Bulgarien. 1876, im Zuge der sogenannten Befreiungskriege – also nach dem Niedergang des osmanischen Reichs – wurde in (Veliko) Tarnovo* die Zentrale des ersten Revolutionskomitees eingerichtet und drei Jahre später, 1879, die erste demokratische Verfassung des autonomen Fürstentums Bulgarien beschlossen. Auch fand die erste große, gesetzgebende Versammlung des Landes in Tarnovo statt.* In dieser turbulenten Zeit war das internationale Interesse an dieser Region Europas sehr hoch. Aufgrund deren geostrategischer Lage, rangen die damaligen Großmächte Russland, Frankreich und Großbritannien vor Ort um Macht und Einfluss. Entsprechend ausführlich wird auf internationalen Titelblättern über die Stadt Tarnovo, die politischen Ereignisse und die neuen politischen Protagonisten berichtet.*
Das benachbarte Arbanassi war vom 16. bis Anfang des 18 Jahrhunderts ein bedeutendes Handelszentrum. Gemeinsam mit Gorna Oriahovitsa, Dolna Oriahovitsa und Liaskovets bekam Arbanassi 1480 durch den Sultan zahlreiche Privilegien mit Auflagen zugesprochen: keine Aufstände der Bojaren gegen die osmanische Herrschaft und dafür weitgehende Selbstbestimmung und Steuerbefreiungen. Dadurch war Arbanassi lange Zeit der einzige „autonome“ Ort auf dem Balkan und somit kulturell und wirtschaftlich eigenständig.* Tarnovo und das benachbarte Arbanassi* sind bis heute Teil eines nationalen Identitätsnarrativs. Mehr noch: Sie stehen für die Kontinuität eines „Bulgarischen“ – unterbrochen allein durch die rund 500-jährige osmanische Fremdherrschaft.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte Bulgarien zunächst – wie andere Ostblockstaaten – mit hoher Arbeitslosigkeit und einer Auflösung seines Wirtschafts- und Sozialsystems zu kämpfen. Im Laufe der 2000er Jahre erholte sich die Wirtschaft, 2007 trat Bulgarien der EU bei. Doch nach wie vor zählt Bulgarien zu den ärmsten Ländern innerhalb der Gemeinschaft, immer wieder erschüttert durch Korruptionsskandale und häufige Regierungswechsel. 2023 wurde die Aufnahme Bulgariens in den Schengen-Raum von Österreich und den Niederlanden mit der Begründung rechtsstaatlicher Defizite blockiert.*
Ost und West
Plamen Dejanoff besuchte zunächst das Kunstgymnasium in Triavna und anschließend die Akademie der schönen Künste in Sofia. Ebendort erhielt er eine bildhauerische, stark handwerksbasierte Ausbildung sozialistischer Prägung. 1991 – nach dem Zerfall des sozialistischen Staats – zog Dejanoff wie viele andere junge Künstler*innen aus Osteuropa auch – nach New York. Danach studierte er an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Michelangelo Pistoletto. Als Leiter der Meisterklasse Bildhauerei verfolgte Pistoletto einen konzeptuellen Kunstbegriff, bei dem traditionelle Gattungsgrenzen ohne Bedeutung waren. In den 1990er Jahren begann der italienische Künstler am "Progetto Arte" zu arbeiten, ein Projekt das auf die Verknüpfung vielfältiger Disziplinen und gesellschaftlicher Bereiche zielte. Darüber hinaus schärften die Ausbildung an der Akademie der bildenden Künste sowie Vorlesungen am Institut für Gegenwartskunst in den 1990er Jahren Dejanoffs künstlerisches Interesse. Neben New York, führten ihn Residencies zu längeren Aufenthalten nach Los Angeles und Tokio.
Im Zuge von Restitutionsverfahren wurden der Familie Dejanoff zwischen 1994 und 2003 mehrere Gebäude in Veliko Tarnovo und im Nachbarort Arbanassi vom bulgarischen Staat rückerstattet. Das Land hatte sich während der Zeit, die Plamen Dejanoff im Ausland verbrachte, politisch, ökonomisch, sozial und kulturell stark verändert. Der Künstler beobachtete vor allem einen starken Wandel im Umgang mit alter Bausubstanz und mit Kulturerbe. In den Vordergrund rückten folkloristische Überformungen und damit sehr klischeehafte Vorstellungen von „bulgarischer Kultur“, die sich in Form billiger Massenware vor allem an Tourist*innen richtete, während vernakuläre Bauweisen und ortsspezifische Materialien aus dem Alltag verschwanden. Sie wurden durch kurzlebige synthetische Materialien aus den unzähligen neu eröffneten Baumärkten ersetzt. Rigipsplatten, Plastikfenster und -türen, Laminat, Kunststoffdispersionen traten an die Stelle von Holz, Lehm, Stein und Kalkanstrich. Ortsspezifische Besonderheiten, Qualität und Nachhaltigkeit von Materialien, Verarbeitungsmethoden und Fertigungstechniken rückten in den Hintergrund. Damit einhergehend veränderten sich Vorstellungen von Ästhetik. Diese Entwicklung setzte freilich nicht erst in den 1990er Jahren ein, sondern sie findet parallel zu Modernisierungsprozessen statt, die bereits im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts einsetzen. In den 1990er Jahren gab es jedoch einen enormen Schub: Osmanische, bulgarische und sozialistische Vergangenheit verschwanden gleichermaßen schnell, mit allen materialen und immateriellen Hinterlassenschaften aus Alltag und Bewusstsein.
Interessant erscheint in dem Zusammenhang, dass in der Zeit des sozialistischen Regimes der Wert kulturellen Erbes vergleichsweise höher eingeschätzt wurde, auch von feudalen, eigentlich ideologisch inakzeptablen Hinterlassenschaften des Adels und der Kirche. In Museen umgewandelte, öffentlich zugängliche Kirchen und Klöster wurden per Sonderdekret der kommunistischen Partei 1960 unter Denkmalschutz gestellt. Die politische Führungsriege residierte in bedeutenden historischen Gebäuden in Arbanassi. Der Führer der Kommunistischen Partei, Todor Zivkov, ließ sich dort einen palastartigen Sommersitz errichten, den er zwischen 1970 und 1989 nutzte.
Stiftungsgründung und erstes Projekt
2010 gründete Dejanoff eine Stiftung, um eine Struktur für Projekte zu schaffen, die sich mit Fragen des materiellen und immateriellen Erbes des Landes befassen.* Fünf der restituierten Gebäude in Veliko Tarnovo und Arbanassi bilden dabei den Grundstock der Stiftung, ergänzt durch mehrere Sammlungen, deren Bestände beständig wachsen: zirka 18.000 historische Dokumente zur Geschichte Bulgariens, 190 Werke zeitgenössischer Kunst, mehr als 2.000 Bücher über Kunst, Architektur, Mode, Film und Design. Das Stiftungsziel lautet „zeitgenössische Kunst im öffentlichen Bewusstsein Bulgariens zu verankern“. Unter diesem Dach bündeln sich zeitgenössische Kunstprojekte, die um Erbe, Tradition, kulturelle Identitäten, Hegemonie sowie um Denkmal- und Wertediskurse kreisen.
Das erste Vorhaben der Stiftung, das 2018 auf dem Alexander-Battenberg-Platz in Sofia umgesetzt wurde, ist The Bronze House.* Den heutigen Namen verdankt der Platz Alexander von Battenberg, der 1879 zum ersten Knjaz (Fürsten) des Landes gewählt wurde. Das Erscheinungsbild des Platzes wird nach wie vor stark vom Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Königspalast geprägt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde dieser zur Nationalen Kunstgalerie, wodurch sich die einstige feudale Residenz in ein öffentliches, für jeden zugängliches Museum transformierte. 1949 errichtete man auf dem Platz das antikisch anmutende Mausoleum des ersten kommunistischen Führers des Landes, Georgi Dimitrow. 1999 – nach dem Zerfall des sozialistischen Bulgariens – wurde es gesprengt. Der frühere Standort gehört nun zum Garten vor dem Sofioter Nationaltheater. Heute dient der Platz der Durchführung städtischer Events, es finden dort mehrere Festivals im Jahr und der berühmte Weihnachtsmarkt statt. Letztlich spiegeln sich in den verschiedenen Nutzungen und Funktionen gesellschaftliche Veränderungen bis in die Gegenwart. Der Bogen lässt sich von der feudalen zur sozialistischen Repräsentation, vom sozialistischen hin zu kommerziellem Gebrauch spannen.
Mit seiner zwölf Meter hohen modularen, selbsttragende Konstruktion aus über 2000 Einzelelementen schreibt sich Dejanoff mit The Bronze House in diese Historie ein, besser gesagt: „besetzt“ sein Objekt den mit wechselnden Nutzungen, Funktionen und Bedeutungen aufgeladenen Platz. Gitterstruktur und Stecktechnik rufen kulturelle Traditionen des Landes auf. Konstruktion und Bauweise sind deutlich auf die Architektur des Spätmittelalters in Arbanassi bezogen, Form und Grundriss erinnern an den Turm des berühmten Rila Klosters.* Ausgeführt ist das Kunstwerk – Architektur, Skulptur und Denkmal gleichermaßen – in einem aufwendigen Bronzeguss. Material und Konstruktion strahlen Wertigkeit aus und rufen klassische Traditionen der Bildhauerei auf.
Bevor das Bronze House auf dem Platz aufgestellt wurde, war dieses eine fragmentierte, internationale „Wanderskulptur“ – so Vanessa Joan Müller, Kuratorin des Projekts.* Dejanoff hatte im Rahmen verschiedener Ausstellungen immer wieder ein oder mehrere Elemente fertigen lassen. Auf dem Alexander-Battenberg-Platz wurden diese Teile dann erstmals zum Bronze House zusammengefügt. The Bronze House ist im Grunde genommen ein hybrides Objekt, Architekturskulptur, Denkmal, ortsbezogen und nomadisch zugleich. Mit der Aufstellung des Bronze House auf dem Alexander-Battenberg-Platz entbrannte eine gewaltige öffentliche Diskussion über den Umgang mit dem Platz und seine Nutzung. Über Monate wurde das Haus im nationalen Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften diskutiert, Stellung für oder gegen das Bronze House bezogen. In der benachbarten Nationalen Kunstgalerie, der Österreichischen Botschaft, der Sofia City Art Gallery, im Stadtrat, an der Akademie der bildenden Künste, an der Architektur Universität, der Amerikanischen Universität, in der Galerie der Kunstakademie, der Stadtbibliothek und im öffentlichen Raum fand unter Beteiligung zeitgenössischer bulgarischer Künstler*innen eine Reihe an Veranstaltungen statt. Diese widmete sich der Rolle von Kunst im öffentlichen Raum und den Möglichkeiten öffentlicher Kunst, Verschiebungen in den Auffassungen von Öffentlichkeit sowie den gewandelten Vorstellungen von Kunst.
Foundation Requirements
Foundation Requirements nahm seinen Ausgangspunkt bei Dejanoffs Befassung mit verschiedenen Wohnhäusern, mit einem Haus aus dem 15. Jahrhundert, einem Badehaus aus dem 16. Jahrhundert, beide in Arbanassi, sowie mit drei Häusern aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert in Veliko Tarnovo. Dabei handelt es sich um jene restituierten Gebäude, die der Künstler 2010 in seine Stiftung eingebracht hatte.
Dejanoff wurde auf die besondere Konstruktion dieser Gebäude aufmerksam als er 2001 für eine Ausstellung im Pariser Palais de Tokyo im Archiv der Fondation Le Corbusier recherchierte. Der französische Architekt hatte 1911 auf seiner Reise durch südosteuropäische Länder – noch vor dem großen Erdbeben – unter anderem Veliko Tarnovo und Arbanassi bereist.* Auf seiner Voyage d‘ Orient hielt er seine persönlichen Eindrücke in visuellen und schriftlichen Notizen fest. Neben Moscheen, Akropolis und Parthenon, beeindruckte ihn die mittelalterliche, von traditioneller Handwerkskunst geprägte Architektur Veliko Tarnovos und Arbanassis. Dabei war Le Corbusier von jener modularen „Stecktechnik“ fasziniert, die heute noch in vielen alten Gebäuden – eben auch in jenen von Dejanoff – zu finden ist. Dejanoff begann sich dann selbst intensiv mit dieser Technik zu befassen und für eigene Arbeiten zu nutzen. Sie liegt sowohl den Skulpturen der Foundation Requirements als auch dem oben bereits erwähnten Bronze House zugrunde. Dabei werden die einzelnen Teile lediglich durch Stifte und -winkel zusammengehalten.* Die mit größter Präzision in Eiche, Kirsche, Nuss nach den historischen Vorbildern ausgeführten Decken, Paneele, Fußböden und Türen zeigte und zeigt Dejanoff in Museums- und Galerieausstellungen weltweit. Vorhandene architektonische Reste und Originalpläne, die der Künstler in der Bibliothek eines seiner Häuser fand, bilden die Grundlage zur Rekonstruktion. Andere Pläne stammen vom bulgarischen Kulturministerium.
Wie beim Bronze House zirkulieren bei Foundation Requirements vom bulgarischen Kontext losgelöste Architekturfragmente als Skulpturen. Doch diese nomadisierenden, veräußerbaren Skulpturen sind nur ein Teil des Projekts Foundation Requirements. Das verortete und unveräußerliche Pendant dazu bilden Dejanoffs Gebäude in Arbanassi und Veliko Tarnovo.* Damit rückt das langfristig angelegte Engagement Dejanoffs in Arbanassi und Veliko Tarnovo in Kontrast zu einem sich schnell drehenden globalen Kunstbetrieb.
Heritage Project
Zunächst beabsichtigte Dejanoff alles, was in den Gebäuden fehlt oder zerstört ist, nur als Skulptur zu reproduzieren und außerhalb des lokalen Kontexts in Ausstellungen, Büchern und Zeitschriften zu zeigen. In den Häusern sollten die Leer- und Fehlstellen hingegen sichtbar bleiben. Für Heritage Project veränderte der Künstler das Konzept. Dejanoff bringt nun jene Teile, die zunächst anderen Ortes gezeigt werden, zurück nach Tarnovo. Er möchte – so der Künstler – „sehen, was passiert, wenn einige Teile zurückkommen, weil eine Rezeption entstehen, und die Rekonstruktionen dann hoffentlich mehr zum selbstverständlichen Teil der Stadt werden könnten, wenn man die Teile eingebaut, quasi im Vorübergehen sieht – etwa ein Fenster, einen Türbogen, eine Mauer – damit würde der Kontrast zu anderen Dingen in der Stadt sehr deutlich.“* Hier zielt Dejanoff auf eine Diskussion über Ästhetik, Materialien und Handwerk bzw. darauf wie man in Stadt und Land mit Baukultur umgeht.
Heritage Project ist das jüngste Projekt von Plamen Dejanoff. Ausgangspunkt ist ein touristisch zentral am historischen Hauptplatz von Tarnovo gelegenes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, das 1913, beim großen Erdbeben weitgehend zerstört und auf dessen Fundamenten zwischen 1914 und 1916 das jetzige Haus errichtet wurde.* Dieses transformiert sich nun in einer mehrjährigen Kooperation mit dem Kunsthaus Graz, der Stiftung Bauhaus Dessau und dem Bundesdenkmalamt Wien/Kartause Mauerbach in ein öffentliches Kunstzentrum, in dem man mehr über Dejanoffs Projekte und Vorhaben in Veliko Tarnovo und Arbanassi erfahren kann. Das Gebäude am Hauptplatz ist dabei selbst größtes Exponat und gleichzeitig Hülle und Träger anderer Exponate, die in das Haus eingebaut oder in ihm ausgestellt werden. Langfristig plant der Künstler seine Sammlung an Zeitschriftencovern und zeitgenössische Kunst dort unterzubringen. Darüber hinaus ist die Errichtung einer öffentlich zugänglichen Bibliothek und die Einrichtung von Residencies für Kulturschaffende vorgesehen.
Zwischen Anfang Juni und Ende August 2023 wurden einzelnen architektonischen Elemente, darunter ein doppelflügeliges Eingangstor, ein Steinboden, eine Steinsäule, mundgeblasene Glasscheiben usw. im Kunsthaus Graz ausgestellt. Dort zeigte Dejanoff auch erstmals einen von ihm entwickelten Farbcode, der jedem seiner Gebäude in Tarnovo und Arbanassi eine bestimmte Farbe zuordnet. Immer wenn künftig ein Architekturelement aus einer Galerie- oder Museumsausstellung in eines der Häuser vor Ort eingebaut wird, soll im neuen Kulturzentrum für alle sichtbar eine Leuchte im entsprechenden Farbton eingeschalten und auf diese Weise der Prozess der Sanierung sichtbar gemacht werden. Im Laufe der Zeit werden so die einzelnen Leuchtobjekte zu einer Lichterkette (Heritage Project Celebration Sets) zusammenwachsen. In den Spektren von Hellblau über Türkis hin zu Grau und Blau greift Dejanoff Farbtöne von Leuchten aus Überfangglas auf, die zwischen 1980 und 1981 in der Tschechoslowakei produziert wurden. Dejanoff hatte diese Leuchten in einem Depot gefunden, das früher als Ersatzteillager für Mobiliar in öffentlichen Gebäuden diente, und weitere Exemplare in Murano nachproduzieren lassen, weil es in Valašské Meziříč keine Glasfabriken mehr gibt.
Heritage Project ist wie alle anderen Projekte Dejanoffs über mehrere Jahre angelegt. Im Unterschied zu den Neuschöpfungen der Foundation Requirements Serie sind hier die jeweils verwendeten Ausgangsmaterialien selbst historisch: das Tor stammt aus den 1830/1840er Jahren, als man in Tarnovo wieder christliche Kirchen bauen durfte. Vermutlich wurde es von einem ungarischen Schmiedehandwerker für die Kirche gefertigt. Die Maueranker sind aus dem 18. Jahrhundert (Tarnovo und Ulm), und die beiden geschmiedeten Ausleger aus dem 19. Jahrhundert (Tarnovo und Stuttgart).
Die Steine der Steinboden-Skulptur kommen aus dem 16. Jahrhundert und aus dem 18. Jahrhundert (Arbanassi, Tarnovo und Dresden), die Steinsäulen stammen aus dem 18. Jahrhundert (Tarnovo und Jawor in Polen). Die Holztür ist von 1718 (Palais Slav, Tarnovo). Zusammen mit Expert*innen aus dem Handwerk, der Denkmalpflege und Restaurierung werden die jeweiligen Objekte zunächst erfasst, beforscht, restauriert, ausgestellt und zuletzt in das Haus am Hauptplatz eingebaut. Dejanoff schreibt sich damit in eine Bautradition ein, die Spolien einsetzt, also jene Bauteile, die in einem anderen Zusammenhang geschaffen worden sind und später eine neue Verwendung finden. In der Spolie ist „Geschichte als Material präsent“, so Johannes Odenthal. Und weiter: „Die Spolie hat also einen ursprünglichen Zusammenhang aufgegeben und tritt in ein neues Kontinuum ein. Das Material bleibt dasselbe. Es ist die semantische Struktur, das Bezugsfeld, das sich verändert.“ Sie gibt, und das zeigt sich auch im Dejanoffschen Werk, „Auskunft über das Geschichtsbild einer Kultur.“* Dejanoff baut damit eine Spannung zu jenem Denkmalverständnis auf, das die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart unsichtbar zu machen sucht.
Zeitgenössische Kunst, Handwerk, Restaurierung
Wie bereits erwähnt stehen The Bronze House, Foundation Requirements und Heritage Project nicht nur in engem Zusammenhang mit Handwerk und Handwerkstraditionen sondern auch mit einem zeitgenössischen globalisierten Kunstbetrieb. Dejanoff nutzt dessen Strukturen und Mechanismen um mit seinen Stiftungsprojekten länderübergreifende Kooperationen aufzubauen, Produktionsmittel zu generieren sowie Aufmerksamkeit auf eine periphere Region Europas zu lenken. Im Grunde genommen wird der globalisierte Kunstbetrieb damit selbst zu einer Art Währung und Werkzeug für den Künstler, durchaus vergleichbar mit Hammer und Meißel in der klassischen Bildhauerei.
In den 1990er Jahren* setzte sich Dejanoff intensiv mit der Warenwelt, mit Kommerz und Konsum auseinander. Als Bildhauer teilte er diese Faszination mit anderen international tätigen Künstler*innen wie etwa Sylvie Fleury, Jorge Pardo, Heim Steinbach und Jeff Koons. Einige seiner frühen Arbeiten, wie New Works, 2003, können durchaus als Tribut an diese Künstler*innen gelesen werden. Doch Dejanoff nahm immer auch – und das ist der Unterschied zu diesen – systemische Fragen mit in den Blick, indem er das (westliche) Kunstsystem selbst adressierte. Dazu gehören Auseinandersetzungen mit der Zirkulation von Kunstwerken, Kunstmarkt, Ausstellungsroutinen, Kunstbegriffen, Vorstellungen von der Rolle des Künstlers (des „Künstler-Seins“), und nicht zuletzt mit Branding-Strategien von Werk, Künstler und auch Orten. Dejanoff begann die Möglichkeiten eines Künstlers auszuloten sich selbst als wirtschaftlicher Akteur aufzustellen, auf Augenhöhe mit Partner*innen aus der Wirtschaft zu verhandeln und gleichberechtigte Kooperationen einzugehen.* Dieses Interesse umfasste rechtliche Rahmenbedingungen, PR und verschiedene Finanzierungsmodelle. Dazu gehört schließlich auch die Gründung seiner Stiftung.
Dejanoffs Verhältnis zu den Handwerker*innen, mit denen er arbeitet, entspricht einerseits einem Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis: Leistungen werden angefragt und bezahlt. So ließ der Künstler für Heritage Project (Window Glass) im bayrischen Waldsassen, in der Glashütte Lamberts Glasscheiben herstellen.* Anderseits begibt sich Dejanoff immer wieder – zumindest temporär – selbst in ein Lehrling-Meister-Verhältnis: So schrieb sich der Künstler etwa in ein vom österreichischen Bundesdenkmalamt in der Kartause Mauerbach veranstalteten Schulungs- und Fortbildungsprogramm ein, um von erfahrenen Handwerkern das Schmieden zu lernen. In diesem Zusammenhang entstanden Heritage Project (Entrance Portal), Heritage Project (Flag Holder I-II) und Heritage Project (Tension Band I-II).* Während sich der handwerkliche Aufwand im Bereich der Kunst und Baukultur durchaus lohnen kann, steht das Handwerk seit Beginn der Industrialisierung zunehmend unter ökonomischen Dauerdruck. Handwerklich hergestellte Produkte benötigen in der Regel viel Zeit zu ihrer Herstellung, die nur wenige bereit zu bezahlen sind. Anspruchsvolles Handwerk findet sich heute entsprechend entweder im Hochpreissegment der Gebrauchsgüterproduktion oder im Bereich spezialisierter und geförderte Denkmalsanierungen.
Beim Heritage Project arbeiten Expert*innen aus Kunst, Handwerk, Denkmalpflege und Restaurierung sehr eng zusammen. Dieser Prozess, der in der Kartause Mauerbach begonnen hatte, war von Anfang an von intensiven Diskussionen über Restaurierungsziele, damit verbundene Bewertungen und Wertigkeiten begleitet worden. Kunstbetrieb, Handwerkstraditionen und handwerklich-akademische Restaurierung werden aufeinander bezogen und dadurch auch in ihren jeweils verschiedenen Logiken, Traditionen sowie Kontexten sichtbar markiert. Damit setzt Dejanoff einen Prozess in Gang, der jeweils eingeübte Praxen und Diskurse auf den Prüfstand stellt – auch seine eigene als Künstler.
Welches Erbe?
Die Titel der Projekte – The Bronze House, Foundation Requirements, Heritage Project, The Trifon Ivanov Museum – muten allesamt gewichtig und bedeutsam an. „Bronze“ vermittelt Werthaltigkeit und Wertigkeit, „Foundation“ Seriosität und Stabilität, „Heritage“ Traditions- und Wertbewusstsein und „Museum“ Wissenschaftlichkeit und Repräsentation – zusammen suggerieren diese Bezeichnungen unverrückbare Werte und Unvergänglichkeit – um nicht so sagen: Ewiggültiges.
Damit kommt den Titeln neben den Objekten ebenfalls eine wesentliche Funktion zu Raum und Diskurs zu besetzen. Bei The Bronze House sind es der ideologisch immer wieder überformte Alexander-Battenberg-Platz und die teilweise heftig geführten Diskurse um seine Nutzung. Bei Heritage Project rückt der Hauptplatz von Veliko Tarnovo in den Mittelpunkt. Dieser touristische Ort gibt den besten Blick auf die berühmte Festung Zarewetz gegenüber frei, die als bedeutendste Burg des Zweiten Bulgarischen Reiches gilt. Nacht für Nacht findet dort eine populäres Ton- und Lichtspektakel statt, das emotional-aufgeladen, heroische Momente aus der bulgarischen Geschichte zeigt – von den Kämpfen gegen osmanische Truppen, den Jahren der osmanischen Herrschaft bis hin zur Wiedergeburt und Befreiung Bulgariens.* Dejanoff setzt diesem aufgeladenen Ort eine andere – seine – Form des Umgangs mit historisch-kulturellem Erbe buchstäblich gegenüber.
Mit seinen Stiftungsprojekten bringt Dejanoff nationale Erzählungen rund um das materielle und immaterielle Kulturerbe des Landes in Bewegung. Dazu gehört wesentlich die Ausweitung dessen, was überhaupt zum bulgarisch-nationalen Kulturerbe zählt. Denn Dejanoff nimmt neben den Jahrhunderten, in denen seine Häuser errichtet wurden, auch Moderne, sozialistische Moderne, Nachwendezeit und Gegenwart in den Blick. Foundation Requirements zeigt dies besonders deutlich: Mit den Nachbauten von Architekturfragmenten aus der Bibliothek und anderen Gebäuden in Arbanassi bezieht sich Dejanoff auf die Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft, mit Foundation Requirements (Covers and Documents) auf das letzte Drittel des 19. und das frühe 20. Jahrhundert. Darüber hinaus integriert Dejanoff in seine Ausstellungen immer wieder Verweise auf Le Corbusier, seien es Zeichnungen und Notizen aus dessen Voyage d’Orient, oder wie zuletzt den von Cassina produzierte LC14 Tabouret Cabanon Hocker des französischen Architekten.* Auch die Spurensuche nach verlassenen und gepflegten Gärten gemeinsam mit Tobia Bucher (Heritage Project with Tobia Bucher on the Traces of Le Cobusier) muss in dem Zusammenhang erwähnt werden. Der Landschaftsdesigner und Philosoph begab sich mit Dejanoff auf die Spuren von Le Corbusier, der Bulgarien als einen großen, ursprünglichen Garten beschrieben hatte. In die Gegenwart gezogen, zeigt Dejanoff in seiner Grazer Ausstellung unter anderem verschiedene Topfpflanzen in weggeworfenen Blechdosen, Emailtöpfen und Steintrögen, wie man sie bis heute in Tarnovo findet. Auch mit der Präsentation der Werkserie Repeat & Reality Check, bestehend aus rückgebauten Rigipsflächen und Aluminiumunterkonstruktionen, ruft der Künstler die Nachwendezeit auf. Eine weitere zeitgenössische Bezugsebene eröffnet die Fotoserie Foundation Requirements (Collaborations). Dejanoff hatte den Künstler-Fotografen Wolfgang Thaler 2015 eingeladen in Veliko Tarnovo/Arbanassi zu fotografieren.*
Ein ebenso weiter zeitlicher Bogen findet sich bei Heritage Project: Das Tor aus 1830/1840er Jahren, die Teile des Fußbodens aus dem 16. und 18. Jahrhundert treffen auf ausrangierte Blechdosen, Emailtöpfe und Steintröge sowie blau-grau-grüne Überfangglas-Lampenschirme aus 1980/81. Ursprünglich war das größte Hotel der Stadt, das Intercontinental, mit diesen Leuchten ausgestattet.* Die zeitgenössischen Bezugnahmen werden von Dejanoff hergestellt, (reversible) Fortführungen und damit auch Interpretationen der historischen Artefakte bzw. durch den Künstler veranlasste Neuproduktionen. Die Farbgebung der in Waldsassen produzierten mundgeblasenen Fensterscheiben für Heritage Project (Window Glass) orientiert sich an historischen Vorbildern (historisches Rathaus in Tarnovo, Badhaus in Arbanassi, Palais Slav), und wird im vom Dejanoff entwickelten Farbcode seiner Häuser aufgegriffen. Das Grün für Heritage Project (Entrance Portal), Heritage Project (Flag Holder I-II) und Heritage Project (Tension Band I-II) bezieht sich auf den ursprünglichen Grünanstrich des Tores. Schritt für Schritt widmete sich Dejanoff in enger Zusammenarbeit mit den Restaurator*innen der Analyse, Reinigung sowie dem Wiederaufbau der Schutz- und Farbschicht. Als oberste Schicht wählte der Künstler ein sehr leuchtendes bläuliches Grün, dem historisch verwendete Farbpigmente aus Malachit und Azurit zugrunde liegen. Damit befindet sich das Blaugrün im Farbspektrum der Grüntöne, die im Zuge der Untersuchung auf dem Eisentor freigelegt wurden.
Eine sehr wichtige Rolle in der Ausweitung dessen, was zum kulturellen Erbe zählt, spielt das jüngste Projekt der Stiftung, an dem Dejanoff bereits seit Jahren arbeitet: das Trifon Ivanov Museum.* Dieses ist dem namensgebenden bulgarischen Fußballspieler gewidmet, der 1965 in einem Dorf in der Nähe Veliko Tarnovos geboren wurde und bereits 2016 verstarb. Ivanov begann seine Fußballerkarriere mit 18 Jahren bei seinem Heimatverein Etar Tarnovo, einem legendären Klub,* machte eine Weltkarriere und beendete seine Laufbahn in Wien 2001. Mit ihm erreichte Bulgarien bei der Weltmeisterschaft 1994 in USA überraschend den dritten Platz. Der Spieler war für Dejanoff und viele andere junge Männer Vorbild, wurde also zum Teil seiner und gleichzeitig einer kollektiven Identität des Landes. Seit vielen Jahren sammelt Dejanoff nun historische Dokumente, die mit Ivanov in Zusammenhang stehen. Dazu gehören Eintrittskarten zu seinem Spielen, Programmhefte, Zeitschriftencover, Panini Sammelsticker und Karten, Fotos, usw. Wechselausstellungen des Museums sollen auch im neuen Kulturzentrum in Tarnovo zu sehen sein. Damit treten populärkulturelle Artefakte Seite an Seite mit jahrhundertalter Baukultur.
Eine weitere Strategie Dejanoffs im Umgang mit kulturellem Erbe liegt darin kalkuliert-dosiert Erwartungen zu enttäuschen. Die Aussicht aus seinem Kulturzentrum auf die Festung ist atemberaubend, doch gibt es eine Bedingung. In jeder Konsumption im Café ist ein Betrag enthalten, der zum Eintritt des Kulturzentrums berechtigt – ob man dieses nun besucht oder nicht. Auf diese Weise erweitert Dejanoff geradezu beiläufig touristisch geprägte Erwartungen. Bei den Architektur-Skulpturen von Foundation Requirements sind Enttäuschungen hingegen kontextbezogen: Im Verständnis eines zeitgenössisch betriebenen Handwerks muten die Skulpturen schlicht aus der Zeit gefallen an, in zeitgenössischen Kunstmuseen und -galerien rufen diese einen konservativ-traditionellen Kunstbegriff auf. Und wer Dejanoffs Werke als Wiederentdeckung eines nationalen bulgarischen Erbes lesen möchte, muss erkennen, dass jene Steckverbindungen, die bereits Le Corbusier fasziniert hatten, sich von Deutschland bis Japan finden lassen. Der Grund: Die Mobiliät der Handwerker in früheren Jahrhunderten. Damit zeichnet Dejanoff kulturelle Verbindungslinien nach, die spätere nationale Grenzen überschreiten. Letztlich trifft dies auch auf seine eigene Biografie und künstlerische Praxis zu.
Dejanoff weitet den Erbebegriff also nicht nur aus, er verkompliziert ihn auch absichtsvoll, indem er in seinen Präsentationen verschiedene, durchaus rivalisierende Auffassungen eines kulturellen Erbes nebeneinandertreten lässt. Indem er (vor-nationale, nationale, sozialistische) Vergangenheit und (nationale, kapitalistische) Gegenwart – mit sich daraus ergebenden Friktionslinien – kurzschließt, eröffnet er Debatten darüber, was unter „kulturellem Erbe“ verstanden wird, was dazu zählt und was nicht, und wer diese Bewertungen zu welchem Zeitpunkt vornimmt. Es ist also auch ein performativer Ansatz, der Auffassungen, Zuschreibungen von Bedeutung und Wert, Beurteilungen und Repräsentationen von kulturellem Erbe konsequent und kontinuierlich verschiebt, weiterschiebt.